D. Sidler: Heiligkeit aushandeln

Cover
Titel
Heiligkeit aushandeln. Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft (1560–1790)


Autor(en)
Sidler, Daniel
Reihe
Campus historische Studien 75
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
593 S.
Preis
€ 58,00
URL
von
Andreea Badea, Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität

Daniel Sidler hat ein sehr gut strukturiertes Buch geschrieben, dessen Lektüre Freude bereitet und das seine Leser*innen auf eine theoretisch und methodologisch neue Wege einschlagende Reise in den religiösen Alltag der nachreformatorischen Schweiz mitnimmt. Seine 2016 bei Christan Windler verteidigte Dissertation erzählt eine Verflechtungsgeschichte des frühneuzeitlichen Katholizismus zwischen lokalen und transregionalen Akteuren. Es geht um die Konstituierung und Umgestaltung von religiös geladenen Räumen sowie die Herausbildung und Adaptierung religiöser Praktiken und Objekte, mit dem Ziel möglichst zahlreiche Heiligsprechungen und damit verbundene Aufwertung in religiösen, diplomatischen und wirtschaftlichen Diskursen zu erhalten.

In drei sehr eng miteinander verwobenen Kapiteln geht er den unterschiedlichen Akteuren und ihren Strategien und Handlungsspielräumen, den verschiedenen Frömmigkeitspraktiken und den jeweiligen Verdichtungen zu Gnadenräumen am Beispiel der Vielseligen nach und liefert so eine vielschichte Antwort auf die Frage, was Heiligkeit in der frühneuzeitlichen Schweiz bedeutete.

Was sie in Rom zu bedeuten hatte, legte Urban VIII. recht eindeutig fest, allerdings liessen seine Bestimmungen einen beträchtlichen Spielraum für «jene im Ruf der Heiligkeit stehenden und […] verehrten, aber weder beatifizierten noch kanonisierten Figuren» (S. 72) übrig. Dieser Bereich sollte erst am Ende des Untersuchungszeitraums von Benedikt XIV. stärker reglementiert werden. In der Zwischenzeit verfolgten lokale «Pressuregroups » die Profilierung der einzelnen Kulte von Bruder Klaus (Niklaus von Flüe) in Sachseln, Hans Wagner in Hergiswald, des Jesuiten Petrus Canisius, Idda von Toggenburg und Burkard von Beinwil.

Das erste Kapitel «Wie im Himmel Roms, so auf eidgenössischen Erden? Heiligenhimmel und Gnadenlandschaften» beschäftigt sich mit diesen Gruppen sowie ihren Interessen und Handlungsmöglichkeiten beim Versuch, Gnadenräume zu generieren, die einzelnen Kulte zu etablieren und symbolische Orte im jeweils eigenen Sinn zu überschreiben. Dies betraf nicht nur innerkatholische Diskurse, sondern auch die Auseinandersetzung mit anderen Konfessionen. Inwiefern Bruder Klaus als katholischer Vielseliger auf den Weg zur Heiligsprechung oder als Protoreformierter zu verehren war, ist ein Aspekt, der auf interkonfessioneller Ebene immer wieder neu ausgehandelt werden musste und Gegenstand zahlreicher polemischer Streitschriften wurde. Dazu gehört auch, dass viele Gnadenorte sich gerade dort herausbildeten, wo die Grenze zu reformierten Gebieten besonders nah war. In diesen Situationen spielten auch verehrungswürdige Objekte immer wieder eine besondere Rolle, so zum Beispiel heilige Bilder, die vor der Zerstörung gerettet werden mussten oder die sogar die Flucht selbst übernahmen, wodurch sich ihre Stellung innerhalb des komplexen Gefüges von Vielseligen, Interessengruppen und Gnadenorten langfristig konsolidierte.

Beim Buhlen um die Erschaffung, Eroberung und Gestaltung von Gnadenorten für die einzelnen Vielseligen spielten Bündnisse mit bereits etablierten Kulten oft eine wichtige Rolle. Während sich Bruder Klaus im Schatten der Marienverehrung seinen Weg zum Altar gebahnt hatte, gelang die Verbindung von Hans Wagner mit dem Loretto-Kult nicht. Im Gegenteil, der Vielselige musste letztlich weichen, weil sich eine andere Symbiose nachhaltiger etablieren konnte. Der aus Rom «hinzugezogene» oder von Rom aus delegierte Katakombenheilige Felix erfuhr die zügige und wirkmächtige Überlappung mit dem Züricher Schutzpatron Felix, die andere Kulte verdrängte. Dass Hans’ Leichnam zusätzlich aus dem öffentlichkeitsnahen Raum entfernt und seine Verehrung von bischöflicher Seite untergraben wurde, trug sein Übriges dazu bei.

Bruder Klaus hingegen erfuhr mehrere Elevationen und Umbettungen innerhalb «seiner» Kirche bis hin zur schmuckvollen Drapierung seiner Reliquien zu einem, in pompösen Gold und Flitter gekleideten Betenden auf Knien – ein Anblick, der gerade für reformierte und lutherische Besucher schwer zu ertragen war.

Solche Aushebungen und Translationen fanden in Anwesenheit lokaler Eliten und diverser Gesandter anderer, übergeordneter Instanzen statt und sollten nicht nur das positive Ende des erhofften Kanonisierungsverfahren vorwegnehmen, sondern zugleich als Vereinnahmungsgeste gegen potenzielle Nebenbuhler funktionieren. Der Erfolg dieses Kultes lag darüber hinaus in seiner Verquickung mit der Verehrung Carlo Borromeos, wodurch er mächtige Fürsprecher in der Ritenkongregation und vor dem Papst erhielt. Im Gegenzug bot der für und durch Bruder Klaus erschaffene Gnadenraum die Infrastruktur, derer sich die spanisch-mailändische Seite zur Propagierung ihres eigenen Heiligen in den Schweizer Kantonen erfolgreich bedienten.

Das zweite Kapitel «Hand in Hand mit den Heiligen: Zum Erfahren und Vermitteln von Gnade» betrachtet zwar weiterhin den lokalen Kontext, erweitert aber die Perspektive um die Einbeziehung der Gnade als «eine konkret, ‹weltliche› (Körper‐)Erfahrung» (S. 208) und religiöser Orden bzw. Bruderschaften als Vermittler dieser sehr unmittelbar auf die «physische oder seelische Befindlichkeit» zielenden Gnade. Gerade im Gefolge umständlich vorbereiteter Kanonisierungsverfahren spielt die Frage einer so wahrgenommenen Gnade und ihre Abgrenzung vom «Wunder» eine eminente Rolle. Aufgrund der immer wieder laut werdenden Kritik an der katholischen Heiligenverehrung und ihrer Praktiken bedurfte es auch im Bereich der Heiligsprechungsverfahren einer gewissen Professionalisierung. Dazu gehörte die Verwissenschaftlichung von Kriterien, auf deren Grundlage «Wunder» zu definieren und von milderen Formen des Beistands verehrter Personen abzugrenzen war. Besonders auffällig ist hier, dass spätestens seit den Restrukturierungen unter Benedikt XIV. sich das (Fach‐)Wissen bezüglich dieser Unterscheidungen unter den Laien im gleichen Masse wie unter den Ärzten so weit verbreitete, dass diesbezügliche Zeugenbefragungen fast identische Ergebnisse wie die Expertenaussagen lieferten.

Die mehrschichtige Kooperation mit dem Ziel, ein Kanonisierungsverfahren einzuleiten, schlägt sich nicht nur in den Aussagen nieder, sondern auch in der Qualität der dokumentierten Wunder. Vielselige waren in der Konsequenz viel seltener für Rettungswunder zuständig, weil solchen Wundern nicht dasselbe Gewicht wie wundersamen Heilungen von chronischen, unheilbaren Krankheiten im Prozess zukam.

Solche Verfahren galten als «nationale» Angelegenheiten, deren Lösung ähnlicher diplomatischer Wege bedurften wie territoriale oder wirtschaftliche Fragen auch. Das dritte Kapitel «Von eidgenössischen Erden in den Himmel Roms? Selig- und Heiligsprechungen» nimmt die Verfahren in Rom in den Blick und analysiert die unterschiedlichen Akteure, die sich innerhalb der transregional agierenden Orden, über klassische diplomatische Wege bzw. über diverse Patronagenetzwerke für die Prozesse einsetzten. Freilich waren dies keine klar strukturierten Schrittabfolgen, sondern diffuse Prozesse, die immer wieder stagnierten und schubweise vorangetrieben wurden. Ihr Vorteil war aber, dass sie ständig von «einem Diskurs der Hoffnung» (S. 466) begleitet waren, da sie praktisch nie scheitern konnten. Die seit Urban eingeführte Skalierung der zu erreichenden Ziele, was den Verehrungsrahmen einer solchen vielseligen Person betraf und der Umstand, dass man stets Selig- und Heiligsprechung gleichzeitig anvisieren konnte, war ein Grund dafür. Der andere lag in den personellen Strukturen vor Ort und in Rom, die es immer wieder ermöglichten, den Faden aufzunehmen und bisweilen sogar auf mehr Glück als beim eben verstorbenen Vorgänger der jeweiligen Entscheidungsträger hoffen zu dürfen.

Abgerundet wird der Band von einem Anhang mit Karten, einem Katalog der eidgenössischen Gnadenorte und einem Orts- und Namenregister. Doch soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier mitnichten um ein Buch nur über die Schweiz handelt. Es liefert vielmehr ein Beispiel dafür, wie man Verflechtungsgeschichte zwischen Vogelperspektive und Nahaufnahme der Alltagsereignisse erzählen kann. Sidler zeigt uns, wie sehr diplomatische, politische und wirtschaftliche Beziehungen mit der Alltagsfrömmigkeit vor Ort, mit religiösen Praktiken, diversen Kulten und mit Fragen der Inszenierung und der symbolischen Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren verquickt sind und wie sie sich gegenseitig bedingten.

Zitierweise:
Badea, Andreea: Rezension zu: Sidler, Daniel: Heiligkeit aushandeln. Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft (1560–1790), Frankfurt a. M. 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 506-508. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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